Aneta und Borwin - Slawen und Deutsche an der Warnow

Erste rötlichgelbweiße Strahlen der am östlichen Horizont noch verborgenen Sonne durchdringen die Dämmerung des frühen Maimorgens. Leise schlagen die Wellen der Motława gegen den Rumpf der „Maria“. Noch herrscht Ruhe im Hafen von Danceke. Am Heck der Kogge steht der vierzehnjährige Lennek von Rybowe. Mit seinem schmächtigen Körper, dem rundlichen, weichen Gesicht, umrahmt von hellbraunen, seidigen Locken, und den zumeist ängstlich in die Welt blickenden Augen wirkt er um gut zwei Jahre jünger. Der Knabe sieht den Sonnenaufgang nicht, er blickt sehnsuchtsvoll in die entgegengesetzte Richtung und grübelt: Heute geht es endlich nach Hause, nach Rozstoc zurück. Wären wir doch schon da. Aber auch dort wird es nicht besser werden …

„Lennek, komm her!“, reißt die Stimme des Vaters den Jungen aus seinen trüben Gedanken. Der Gerufene eilt zum Heck, wo sein Vater, der bekannte Rozstocer Kaufmann Ritter Mirek von Rybowe, ein dreiunddreißigjähriger, mittelgroßer, aber kräftiger Obodrit mit vollem dunklem Haar, neben dem unausgeschlafenen Rozstocer Kaufherrn Friedhelm von Cosfeld, dem Eigner des Schiffes, steht. Von Cosfeld weilte am Abend zuvor zu einem Nachtmahl beim Danceker Kaufmann Paulus Wolfram. Spät und schwankend kehrte er auf das Schiff zurück. Lennek fragt sich wieder einmal, warum nur der Deutsche eingeladen war, sein Vater aber nicht. Wir sind für die Nemzi, die Deutschen, auch in Danceke nicht ebenbürtig, gibt er sich selbst die Antwort.

„Der Kaufmann hat eine Order für dich, mein Sohn, höre zu!“, fordert der Vater und von Cosfeld erklärt mit rauer Stimme: „Gestern war der rote Wein plötzlich ausgetrunken. Kaufherr von Wolfram möchte aber einen Vorrat für besondere Zwecke besitzen. Ich versprach ihm, heute am Morgen, bevor wir in See stechen, noch ein Fässchen Wein zu liefern. Es muss nur dem Knecht der Wolframs ausgehändigt werden. Das Geld dafür habe ich schon.“

Lenneks Vater, der meint, das sei eine gute Übung für den Jungen, fragt: „Du weißt, wo Kaufmann Wolfram wohnt?“ „Ja, Vater. Wir waren vorgestern bei ihm.“ „Beschreibe mir den Weg.“ „Ich gehe durch das Hafentor, dann über den Langen Markt, auf der rechten Seite entlang, biege in die zweite Seitenstraße nach rechts ab. Das Eckhaus ist es.“ „Richtig, mein Sohn. Du übergibst das Fässchen und kehrst sofort wieder hierher zurück. Hast du alles verstanden?“ „Ja, Vater.“

Lennek klemmt sich das Fässchen unter den rechten Arm und läuft los. Die Torwächter lassen ihn ohne Fragen passieren. Straßen und Plätze sind fast menschenleer. Die Leute sitzen wohl beim Morgenmahl, überlegt der Junge und fühlt sich unwohl. Er lenkt sich ab, indem er sich an den Vortag erinnert, als auf dem Markt nicht nur die üblichen Händler ihre Waren anboten, sondern auch eine Gruppe fahrendes Volk auftrat. Wie der Feuerschlucker das wohl macht, ohne sich Mund und Zunge zu verbrennen? Und so geschickt, wie der Mann, der fünf handtellergroße dünne Eisenringe kurz nacheinander in die Luft warf und alle auffing, möchte ich auch sein. Das Beste war der Tanzbär! Ein kräftiger Bärenführer hielt das große dunkelbraune, zottelige Tier, das sich auf den Hinterbeinen aufrichtete und langsam im Kreis bewegte, an einer dicken Kette. Mit einem Mal stand der gewaltige Bär ganz nah bei mir. Wie traurig seine Augen waren! Schon riss der Mann ihn weiter. Brummend drehte sich das Tier weg. Es geht ihm wie mir. Wir beide müssen gehorchen und können nicht selbst bestimmen, was wir wollen. Die Freude an dem Tanzbären war mir plötzlich vergangen.

Das prächtige Kaufmannshaus der Wolframs hat Lennek erreicht. Er klopft und muss eine Weile warten, ehe die Tür geöffnet wird. Ein Knecht schaut den Jungen erstaunt an. Mit den Worten: „Der Wein ist für deinen Herrn und wurde schon bezahlt“, überreicht Lennek hastig das Fässchen, verabschiedet sich und läuft davon. Den Hafen schon durch das offene Stadttor vor Augen, treten plötzlich drei Männer aus einer Seitenstraße auf ihn zu. Der Junge verspürt einen heftigen Schlag gegen den Kopf, ihm wird schwarz vor Augen.

Ungeduldig wartet Lenneks Vater auf seinen Sohn und ärgert sich: Den Jungen nahm ich trotz des Widerstandes seiner Mutter zum ersten Mal auf eine Kauffahrt mit, um ihm Freude am Kaufmannsberuf zu vermitteln. Zudem hoffte ich, der noch recht unselbstständige, verschlossene Knabe würde durch die Fahrt reifer werden. Doch beides scheint mir nicht geglückt zu sein. Selbst diesen einfachen Auftrag bewältigt er nicht. Lange müsste er wieder hier sein. Ärgerlich macht Mirek sich selbst auf den Weg zu den Wolframs. Der Knecht kann ihm nur sagen, dass der Junge sogleich wieder gegangen sei. Das Herz des Kaufherrn beginnt heftig zu pochen. Hat Lennek sich verlaufen oder einen anderen Rückweg genommen? Bestimmt ist er inzwischen auf dem Schiff, beschwichtigt sich der Vater und eilt in den Hafen. Der Sohn ist nicht da. Mirek, nun ernsthaft beunruhigt, berät sich mit Kaufmann von Cosfeld und Schiffer Albrecht Möller. Alle Schiffsleute, bis auf einen Wächter, durchstreifen die Straßen von Danceke, befragen jeden, den sie treffen, nach Lennek. Von Cosfeld erkundigt sich bei den Leuten auf den drei anderen im Hafen liegenden Schiffen, beim Hafenvogt. Niemand vermag Auskunft zu geben, keiner sah den Jungen. Die Torwächter versichern, er sei in die Siedlung hinein, aber bei ihnen nicht wieder hinausgegangen.

Als Lennek zu sich kommt, überwältigt ihn die Angst. Er steckt in einem Sack. Hände und Füße sind gefesselt, ein Knebel verschließt den Mund. Sein Herz rast, er glaubt zu ersticken, verzweifelt wirft er sich hin und her. Nun bekommt er noch schlechter Luft. Plötzlich hört er einen Mann: „Der scheint wach geworden zu sein und zappelt rum. Zieh ihm noch eins über!“ „Nein, lass ihn, wen stört`s. Treff ich ihn an der falschen Stelle, könnt ich ihn erschlagen. Da würde der Ritter toben“, lautet die Antwort eines anderen. Auch wenn Lennek nicht begreift, was ihm widerfahren ist, beruhigt es ihn ein wenig, dass er nicht getötet werden soll. Er liegt still, weil er so am besten atmen kann und überlegt, wo er sein könnte. Ich rutsche auf einer glatten Fläche hin und her, Räder rumpeln und ich höre das Schnauben eines Pferdes. Ich bin auf einem Fuhrwerk. Endlich hält der Wagen an. Hände greifen nach dem Jungen, entfernen den Sack, zerren ihn vom Wagen herunter und richten ihn auf. ....

Coole Abenteuer aus acht Jahrhunderten -
Laura und Niclas erkunden Rostock

An der Museumskasse bekommen die Zwillinge ein Tablet ausgehändigt, so klein, wie ein Handy. „Das ist ein Museumsführer, der euch zusätzliche Erläuterungen gibt“, erklärt eine freundliche Frau. „Diese Ohrknöpfe sorgen dafür, dass ihr den Text hört und andere Besucher nicht gestört werden.“ Laura und Niclas stecken sich jeweils einen kleinen Knopf ins Ohr. „Schalte das Ding mal an, Laura.“ „Guck mal, was für ein niedlicher Drache, Niclas!“ „Ich bin ein Greif, der Rostocker Greif“, tönt eine männliche Stimme in Lauras und Niclas Ohren. „Ach ja, wie das Tier auf unserem Stadtwappen, nur bunter. Hast du einen Namen?“, will Laura wissen. „Ich bin Rocco. Wer seid ihr?“ „Ich bin Laura und das ist Niclas, mein Zwillingsbruder.“ „Zwillinge, das ist toll. Seht ihr euch ähnlich?“, fragt Rocco. „Nein überhaupt nicht, ich bin doch kein Mädchen!“, protestiert Niclas. „Laura, mach mal ein Foto von Niclas, drück einfach auf das Kamerasymbol.“ Das Mädchen fotografiert den Bruder. „Und jetzt Niclas, ein Foto von Laura“, fordert Rocco. „Ja, ihr seht recht unterschiedlich aus. Laura hat hellblonde glatte Haare, blaugraue Augen und eine Stupsnase. Niclas ist dunkelhaarig, hat braune Augen. Wie alt seid ihr, dreizehn?“ „Wir werden am 24. Juni dreizehn.“ „Was für ein Datum! Ihr habt zusammen mit Rostock und mit mir Geburtstag! Niclas, was mag Laura am liebsten?“ „Prinzessinnen!“ „Ich mag die schönen Kleider, die Prinzessinnen tragen.“ „Kann ich verstehen, Laura, und was mag Niclas?“ „Fußball!“ „Hansa Rostock?“ „Na klar, was sonst!“, bestätigt Niclas. „Seht mal, hier seid ihr.“ Die Zwillinge beugen sich über das Display. Ein Junge mit dem Gesicht von Niclas in einem Hansatrikot und ein Mädchen mit Lauras Gesicht in einem glitzernden Prinzessinnenkleid stehen neben dem Greif. Das sind eure Avatare. Kennt ihr doch vom Computer spielen?“ „Ja, wow, echt krass, wie du das machst!“ „Der Greif ist übrigens mein Avatar“, erklärt Rocco. „Ich bin aber fünf Zentimeter größer als Niclas“, beschwert sich Laura. „Ich überhole dich noch“, erwidert der Bruder. Rocco lässt die beiden wachsen, wachsen bis nur noch die Füße auf dem Bildschirm zu sehen sind. Die Zwillinge lachen…

Es wird für einen kurzen Augenblick dunkel und dann stehen Laura, Niclas und ein junger Mann auf einem schmalen Pfad in einem dichten Wald. Ein paar Sonnenstrahlen dringen durch ein kräftig grünes Blätterdach. „Was ist passiert?“, fragt Laura entsetzt. „Das Tablet hat uns in das Jahr 1218 versetzt“, antwortet der junge Mann mit Roccos Stimme. „Laura, drück schnell auf das Symbol mit der Hose.“ Sofort ändert sich die Kleidung der drei. Das Mädchen hat ein dunkelblaues, bis zu den Knöcheln reichendes Kleid aus grobem Stoff an und einen knielangen Umhang darüber. Niklas trägt ein bis zu den Waden reichendes Hemd in braun mit einem schmalen Ledergürtel. „So, nun fallen wir nicht mehr auf“, Rocco ist erleichtert. „Dieses braune Ding sieht wie ein Kleid aus“, mault Niclas. Er bemerkt aber, dass Rocco ebenso gekleidet ist und außerdem noch einen Umhang trägt. Der junge Mann sagt: „Wir müssen einiges klären. Das Tablet hat eine Zeitenwanderer-App. Wir können damit die acht Jahrhunderte der Rostocker Stadtgeschichte durchstreifen. Aber wo sind wir jetzt?“ „Ich glaube, da vorn ist die Burg Rostock zu sehen…“

Eine helle Stimme ertönt nicht weit entfernt von ihnen. Ein Mädchen singt. Die Worte können Laura und Niclas nicht verstehen. „Bitte tippe die App mit dem Mund an, sie übersetzt fremde Sprachen für euch.“ „Fliege, fliege mein Vögelein, zum Hause der Eltern mein“, klingt es in den Ohren der Zwillinge. „Coole Technik“, staunt Niclas. „Finde ich auch“, entgegnet Rocco. „Steck das Tablet jetzt in den Leberbeutel an deinem Gürtel, Laura, damit niemand es sieht.“ Plötzlich, ein Aufschrei. Holz kracht. Stille. „Da ist etwas passiert!“ Niclas und Laura laufen los, Rocco folgt ihnen. Nach wenigen Schritten finden sie ein Mädchen, das mit dem Gesicht nach unten auf dem Waldboden liegt. Vorsichtig dreht Laura es um. Eine Verletzung an der Stirn blutet. Das Mädchen ist bewusstlos. Mit einem Messer, das an seinem Gürtel befestigt war, trennt Rocco einen Stoffstreifen von seinem Hemd ab und verbindet die Wunde. „Wir müssen das Mädchen zur Burg tragen, doch wie…? Die Umhänge!“ Rocco knotet seinen und Lauras Umhang aneinander. Behutsam bettet er das Mädchen, das etwa im Alter der Zwillinge ist, darauf. Neben dem Mädchen steht ein kleiner Korb mit Blättern und Pflanzen. Laura hängt ihn sich über den Arm. Rocco ergreift die vorderen Umhangenden, Niclas und Laura je ein hinteres. „Hoffentlich hält der Stoff“, Laura zweifelt. Vorsichtig gehen sie zum Weg zurück. Das Tragen strengt die Zwillinge ziemlich am. Der grobe Stoff schmerzt außerdem in den Händen. Endlich sind sie aus dem Wald heraus. Die Burg liegt nun direkt vor ihnen auf einem Erdwall mit einem hohen Zaun aus Baumstämmen. Ringsherum ist ein Graben. Das Wasser kommt aus der Warnow, die links an der Burg vorbeifließt. Ein Holzbohlenweg führt zu einem großen Tor mit einem Turm darüber. Die Wachen brechen in lautes Geschrei aus, als sie sehen, wen Rocco und die Zwillinge bringen. Zwei Krieger nehmen ihnen das Mädchen ab. Sie gehen voraus und öffnen die Tür zu einem kleinen Holzhaus. Ein Mann, zwei Frauen, eine weißhaarige ältere und eine dunkelblonde junge, stürzen aufgeregt herbei. Das Mädchen wird auf einem mit Fellen bedeckten Holzbett niedergelegt. Nachdem Rocco berichtet hat, erklärt der Mann: „Ich bin Kaufmann Bertram von der Trave. Das verletzte Kind ist meine Tochter Margarete. Milena ist meine zweite Frau und Wisla, unsere Heilerin“, dabei deutet der Kaufmann zunächst auf die junge, dann auf die alte Frau. Nun stellt Rocco sich und die Zwillinge vor: „Niclas und Laura sind die Kinder des Kaufmanns Wilbrecht von Ros aus Flandern. Ich bin Richard, ihr Erzieher, und begleite sie zu ihrem Vater, der sich vor einiger Zeit weit im Osten niedergelassen hat. Gestern sind wir in Rostock angekommen und ich wollte den Zwillingen die slawische Burg zeigen.“ Laura und Niclas schauen sich um. Es gibt im Haus nur einen Raum. Alle Wände sind aus dicken Holzstämmen gefertigt, durch ein offenes Fenster dringen Sonnenstrahlen und erhellen eine Bank, drei Hocker sowie einen Holztisch. Mitten im Raum brennt in einer eisernen Wanne ein Feuer. An einer metallenen Kette hängt ein Kessel darüber. Die alte Frau tritt an das Feuer und legt mit einer kleinen Schaufel einige glühende Holzstückchen in eine metallene Schale und streut Kräuter darüber. Ein aromatischer Geruch steigt den Zwillingen in die Nase.

„Rocco, was murmelt Wisla? Ich kann nichts verstehen.“, fragt Niclas. „Sie ist zu leise. Vermutlich ruft sie die Götter der Wenden an.“ „Wenden?“ „Als Wenden wurden die slawischen Bewohner bezeichnet. Sie lebten in unserer Region bereits vor den Deutschen. Wisla und Milena sind Wendinnen, der Kaufmann und Margarete Deutsche.“ „Wieso konnten wir dann den Text von Margaretes Lied nicht verstehen?“, will Laura wissen. „Die Deutschen sprechen Niederdeutsch.“ „Oma kann Niederdeutsch. Sie nennt es auch Platt“, bemerkt Laura. „Ja, genau. Allerdings verändern sich Sprachen. Eure Großmutter spricht ein modernes Niederdeutsch. Das hier ist eine alte Form.“

Wisla fächelt den Kräuterrauch unter Margaretes Nase. Das Mädchen bewegt sich und öffnet die Augen. Verwirrt blickt es um sich. „Was ist geschehen?“ Erleichtert lächeln alle Margarete an. Milena antwortet: „Du warst wieder einmal zu unvorsichtig, Margarete.“ Die Hand des Mädchens gleitet zur Stirn, ertastet den Verband. Wisla reicht Margarete einen Holzbecher mit einem stark riechenden Kräuterextrakt. „Alles trinken!“ Margarete gehorcht und will dann aufstehen, doch Wisla hält sie zurück. „Liegen“, sagt sie mit ihrer sanften Stimme.“ Margarete ist enttäuscht. Laura setzt sich zu ihr auf das Bett. „Was wolltest du allein im Wald?“, fragt sie. Rocco übersetzt. „Ich sollte nur ein paar Blätter und Kräuter holen. Sie werden für Milena gebraucht, wenn das Kind auf die Welt will“, dabei deutet das Mädchen auf den gerundeten Bauch der Stiefmutter. „Den Korb haben wir mitgebracht. Er steht auf dem Hocker“, zeigt Laura. „Ich muss gestolpert sein, mehr weiß ich nicht. Habt ihr mich gefunden?“ „Ich danke euch!“ „Wir alle danken euch“, unterbricht Bertram von der Trave. „Habt Dank für eure Hilfe und seid meine Gäste.“ Rocco erwidert: „Dank für eure Gastfreundschaft. Doch leider müssen wir euch nun verlassen. Wir reisen in einer Gruppe. Unsere Begleiter könnten sich Sorgen machen, wenn wir zu lange ausbleiben“ „Dann lasst mich euch noch die Burg zeigen!“ Heftig nicken die Zwillinge. „Nun gut, das kann ich gestatten, wenn es schnell geht“, stimmt Rocco zu. Die Zeitenwanderer wünschen Margarete „Gute Besserung“ und verabschieden sich von den Frauen. Wisla drückt Laura einen kleinen Leinenbeutel in die Hand. „Kräuter gegen alles, wenn du krank. Ein Holzlöffelchen für einen Becher. Mit kochendem Wasser übergießen, warm trinken. Nur ein Becher am Tag.“ Freundlich bedankt sich Laura und verlässt mit den anderen das Haus. Draußen erklärt der Kaufmann: „Die Wenden bauen ihre meist runden Burgen in sumpfige Wiesen. Der Erdwall drum herum wird über lange Zeit immer wieder aufgeschüttet und erhöht. Ihr seht, die Häuser stehen alle im Kreis, direkt am Wall. Brennende Pfeile, die Feinde in die Burg schießen, treffen so auf die unbebaute Mitte und richten nicht viel Schaden an. Dennoch ist die Burg Rostock mehrfach erobert und niedergebrannt, aber immer wieder aufgebaut worden. Das große Haus dort bewohnt der Herr der Burg, Fürst Borwin. Er ist auch der Herr der Siedlung am anderen Ufer der Warnow, die auch Rostock heißt. Dort oben auf dem Berg, wie wir die Erhebung scherzhaft nennen, steht mein Haus, direkt am Markt.“ „Arbeitet er in der Burg“, wendet Niclas sich an Rocco, der die Frage übersetzt. „Nein, ich bin aus zwei Gründen hier. Einige Rostocker Kaufleute und ich wollen mit Borwin sprechen. Zum anderen stammt meine Milena aus dieser Burg. Sie ist eine wendische Fürstentochter und gehört zu Borwins Familie. Bei der Geburt unseres Kindes will sie unbedingt Wisla an ihrer Seite haben. Es gibt weit und breit keine bessere Heilerin. Sicher wundert ihr euch, dass ich mit einer Wendin verheiratet bin. Die meisten Deutschen halten die Wenden für dumm und nutzen sie aus. Aber ohne Milena würde ich nicht mehr leben.“ „Sie hat ihnen das Leben gerettet?“, wundert Laura sich. Rocco übersetzt. Bertram von der Trave nickt. „Vor drei Jahren holte ich zusammen mit vier weiteren Kaufleuten und einigen Bewachern Salz aus Sülze, einem Ort nordöstlich von hier. Wir freuten uns schon auf unser Zuhause, als wir kurz vor Rostock in einem morastigen Wald überfallen wurden. Die berittenen Angreifer, Deutsche und Wenden, waren in der Überzahl. Ich erhielt einen heftigen Stich in die Schulter und fiel vom Bock des Planwagens. Mein Schwert musste ich in die linke Hand nehmen und konnte mich nicht gut verteidigen. Ein kräftiger Mann rang mich nieder. Er holte aus, um mir den Kopf abzuschlagen. Da traf ihn ein Pfeil und er fiel um. Eine Gruppe von Wenden hatte den Kampfeslärm gehört und eilte uns zu Hilfe. Milenas Schuss rettete mich. Wegen meiner Verletzung, brachten die Wenden mich hierher zu Wisla.

Während meine Wunde heilte, lernte ich Milena richtig kennen. Im vorigen Frühjahr habe ich sie geheiratet. Meine erste Frau, Margaretes Mutter, starb kurz nach unserer Ansiedlung in Rostock. Ich komme aus Lübeck.“ „Weshalb zogen Sie nach Rostock?“, will Niclas wissen. „In Lübeck ist alles teuer, Grundstücke und Häuser vor allem. Dort gibt es bereits zu viele Kaufleute. Rostock aber beginnt gerade erst eine richtige Handelsstadt zu werden. Da sind die Aussichten auf ein gutes Leben besser.“ Während des Gesprächs waren sie am Tor der Burg angelangt. „Nochmals meinen Dank für eure Hilfe, sagt dem Vater der Kinder, dass seine Familie jederzeit in meinem Haus willkommen ist.“ Rocco verneigt sich. Der Kaufmann überlegt einen Augenblick, dann zieht er von seinem Gürtel ein Lederetui mit einem Messer darin. Er reicht es Niclas. „Ein Junge sollte nicht ohne ein Messer unterwegs sein.“ Verwirrt stottert Niclas ein „Vielen Dank“, dann verabschieden sich alle. „Bitte grüßen sie ihre Frau, Margarete und Wisla von uns“, ruft Laura. Auf dem Holzbohlenweg laufen die drei zurück in den Wald…

1945

Als Niclas den Neuen Markt erreicht, erscheint plötzlich auf dem Display ein schwarzer Drache. Eine tiefe, furchteinflößende Stimme ertönt im Ohrknopf.

„Habt ihr gedacht, ihr könntet die Vergangenheit einfach ändern, den krummen Hein retten? Das geht nicht ohne Strafe. Ich bin Occor, der Siebenköpfige. Ich habe Rocco gefangen und eingesperrt. Ihr könnt ohne ihn nach Hause zurückkehren. Alles ist programmiert. Tippt nur auf die App mit dem Haus. Wenn ihr jedoch Rocco mitnehmen wollt, müsst ihr mich finden und besiegen. Jeder meiner sieben Köpfe ist abzuschlagen. Haha! Ich bin ein Drache und spucke Feuer aus sieben Mäulern. Ihr werdet verbrennen, ehe ihr mich gesehen habt. Es ist nur ein Spiel auf dem Tablet. Aber wenn ihr versagt, bleibt Rocco für immer hier. Und die Haus-App schickt euch dann zwar nach 2018, aber mit der falschen Kleidung und an einen falschen Ort! Ihr werdet schwerlich nach Hause finden. Entscheidet euch!“ „Laura ist nicht hier, ich muss erst zu ihr gehen und sie fragen!“ „Du bist allein? Noch besser! Keine Zeit, um zum Schwesterchen zu laufen. Entscheide dich sofort, sonst findet das Spiel nicht statt!“ „Na gut! Wir gehen nicht ohne Rocco! Aber wie kann ich sicher sein, dass du Rocco wirklich hast? Ich will mit ihm sprechen.“ „Ha, ha. Ich habe ihn!“ „Dann lass mich mit ihm reden.“ „Na gut, aber nur kurz.“ „He, Niclas, geht es euch gut? Wo seid ihr?“ „Wir sind im August 1945.“ „Oh je, das ist gefährlich.“ „Haben wir bereits bemerkt.“ „Ist euch etwas passiert?“ „Nein, alles gut.“ „Laura, was ist, warum schweigst du?“ „Laura ist nicht hier, aber bei Freunden, das heißt, sie ist bei unserem Urgroßvater und seiner Zwillingsschwester, mach dir keine Sorgen. Occor meint, wir könnten dich befreien.“ „Das geht, aber überlegt genau, ehe ihr etwas unternehmt. Nichts ist rückgängig zu machen. Holt euch Hilfe, schaut in die Foto-App. Ich bin sicher, ihr schafft es!“ „Das reicht! Kneifst du, Niclas?“ „Niemals!“ „Dann geht`s los. Berühre die App ‘Befrei den Greif’’!“

Der Junge stellt sich in den Schatten einer Rathaussäule und öffnet das Spiel. Auf dem Display erscheint er selbst als die Figur mit dem Hansatrikot, die Rocco ganz am Anfang als Niclas` Avatar bezeichnet hatte. Der Avatar auf dem Bildschirm steht genau an der Stelle, an der Niclas sich in Wirklichkeit befindet. Niclas winkt, der Avatar winkt, Niclas macht einen Schritt vorwärts, der Avatar ebenso. „Wow, das ist stark“, murmelt der Junge. Am unteren Rand des Displays ist eine Leiste „Waffen“ und „Schlüssel“ steht dort. Niclas klickt auf die Symbole, alles leer. „Du bist allein und hast keine Waffen“, höhnt Occor. „Und wie ein Kämpfer siehst du auch nicht aus! Du wirst mich nicht finden, ha, ha! Hier kommt der einzige Hinweis, den ich dir gebe.“ Ein Text erscheint: Sit intra te concordia et publica felicitas. Keine Ahnung, was das heißt, denkt Niclas. Mal sehen, wo ich Hilfe finde. Rocco hatte was von Fotos gesagt. Niclas öffnet die App. Margarete, Hanning, Katharina, Michael, Johann, Greting, Matten, Christian, Friedrich, Daniel und Theodor sind als Spielfiguren zu sehen. „Hallo Niclas, kopiere uns ins Spiel, wir helfen dir“, klingt es im Ohrknopf. „Wie cool ist das denn“, freut sich der Junge.

Mila und Johann - Slawen und Deutsche an der Warnow

Frühjahr 1214

„Wach auf, Johann!“ Die flüsternde Stimme seines Bruders und eine leichte Berührung an der Schulter lassen den Vierzehnjährigen hochfahren. Es ist mitten in der Nacht und stockdunkel. Johann spürt einen Finger auf seinem Mund. „Leise“, mahnt Matthäus, „da bewegt sich etwas im Wald. Hörst du`s? Lass uns nachschauen!“ Langsam schieben sich die Beiden aus dem mit einer Stoffbahn überspannten Leiterwagen. Johann sieht im Schein zweier Feuer die sieben im Halbkreis aufgestellten Fuhrwerke auf der kleinen Lichtung an der Warnow. Hier hatten sie am Abend zuvor haltgemacht. „Wo sind die Wachen?“, fragt Johann. Der Bruder blickt sich um. „Keiner der Krieger ist da. Merkwürdig!“ „Dort, Matthäus, in dem Baum, da schwenkt jemand eine Fackel.“

Johann vernimmt ein sirrendes leises Pfeifen und spürt plötzlich einen brennenden Schmerz in seinem rechten hinteren Oberarm nahe der Schulter. Ehe er versteht, was geschieht, ergreift ihn jemand von hinten, hält ihm den Mund zu und reißt ihn um. Im Fallen sieht der Junge einen zweiten Mann, der sich auf seinen Bruder stürzt. Mit dem Bauch landet Johann auf dem Waldboden und kurz darauf schlägt mit großer Wucht Matthäus` Körper auf Johanns Rücken. Der Junge verliert das Bewusstsein.

Als er wieder zu sich kommt, hört er in der Nähe den Anführer der Wächter ihres Siedlertrecks. Ein Glück, denkt er, der Hauptmann ist da und wird mir helfen. Er will schon nach ihm rufen, als er dessen Worte vernimmt: „… die Leute sind erledigt?“ „Ja, Herr“, antwortet eine wendisch klingende Stimme, „alle tot!“ Johann ist entsetzt, ihm stockt der Atem. „Anspannen und weg hier. Macht zu, Mannen, macht zu!“, befiehlt der Hauptmann. Ein wendischer Ruf ertönt. Aus Furcht, man könne entdecken, dass er lebt, erstarrt Johann, kneift seine Augen fest zu, atmet kaum und betet in Gedanken: „Hilf mir, Herr, bitte, hilf mir! Bitte!“ An den Geräuschen erkennt der Junge, was geschieht: Die Pferde werden geholt und eingespannt, auf ein weiteres „Macht zu, Mannen, macht zu!“ des Hauptmanns rollen die Wagen davon.

Regungslos verharrt Johann. Sind sie weg? Alle weg? Angestrengt horcht er. Es ist still, aber er verspürt Angst, Todesangst, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Johann wartet, ehe er zögernd die Augen öffnet. Trotz der einsetzenden Morgendämmerung erkennt er kaum etwas. Ich muss den Kopf heben. Soll ich? Wenn noch jemand hier ist, bringt er mich gewiss um. Nach einer ihm unendlich lang vorkommenden Zeit wagt er es, den Kopf aufzurichten und sich umzuschauen. Kein Krieger ist zu sehen. Sacht dreht der Junge sich um, zieht behutsam seine Beine unter dem Körper des Bruders hervor und setzt sich auf. Voller Schrecken betrachtet er Matthäus. Leblos starrt der Bruder in den Himmel, die Kehle durchschnitten, die Tunika voller Blut. Entsetzen packt Johann. Er schreit auf, legt seinen Kopf auf Matthäus` Brust und weint hemmungslos. Nun sind auch Johanns Kleidung, sein Gesicht und seine Arme blutverschmiert. Verzweifelt schluchzt er: „Matthäus, was soll nur aus mir werden ohne dich? Allein hier in der Wildnis? Ich werde auch sterben!“ Erst als er sich ein wenig beruhigt, spürt der Junge starke Schmerzen in seinem Arm. Sehen kann er die Wunde nicht, sie ist zu weit hinten. Vorsichtig betastet er sie. Eine Pfeilspitze steckt darin, der Schaft glatt abgeschnitten.

Unsicher erhebt sich der Junge und schleicht zu den anderen auf der Lichtung liegenden Körpern. Allen fünf Fuhrknechten wurde die Kehle durchtrennt. Auch der reiche Bauer, Clawes Beeken aus Westfalen, bei dem sie arbeiten wollten, bis sie genug Geld für Pachtland, Haus, Geräte und Saatgut beisammenhätten, und seine Frau Ella starben durch einen tiefen Schnitt in den Hals. Überall ist Blut, das Gras rot gefärbt. Niemand außer mir überlebte. Johann wird übel. Er erbricht bittere Galle, ein erneuter Weinkrampf schüttelt ihn.

Inzwischen ist es hell geworden. Verloren sitzt Johann auf der Lichtung. In seinem Kopf kreisen die Gedanken. All die Gerüchte über die hinterhältigen, mordenden Wenden stimmen also. Dabei schienen ihm die Wachen, die sie seit Zwarin begleiteten, wo sich der große Treck von Luniburg kommend, in mehrere kleine Züge aufteilte, freundliche Kerle zu sein. Geschickt gingen sie mit den Pferden um, jagten erfolgreich und sangen am Feuer wohlklingende Lieder. Mit einem, dem Jüngsten, wohl nur zwei oder drei Jahre älter als er selbst, hatte er sich sogar angefreundet. Gemeinsam tränkten sie die Tiere. Der Junge hieß Zarek. Ob auch er …? Die Fuhrknechte trauten den Wenden von Anfang an nicht und waren froh, dass ein aus Holstein stammender Friese, der sich Hauptmann nannte, die Krieger befehligte. Doch er war es wohl, der den Befehl gab, alle zu töten. Warum nur? Nie hätte ich ihm solch eine furchtbare Tat zugetraut. Ich bewunderte diesen großen breitschultrigen Mann. Frei und unbesiegbar erschien er mir, hätte gern so gelebt wie er. Wie sehr täuschte ich mich.

Johann schüttelt den Kopf, als wolle er die Gedanken vertreiben. Was ist nun zu tun? Darüber muss ich nachdenken. Die Toten, kann ich sie begraben? Nein, Werkzeug habe ich nicht und mein Arm schmerzt zu stark. Ich bin nicht einmal in der Lage, die Leichen zu bewegen. Der Junge holt ein paar Zweige, schließt mit zwei Fingern der rechten Hand die offenen Augen der Getöteten und legt jedem von ihnen zwei überkreuzte Stöcke auf die Brust. Bei keinem der Toten findet er etwas Nützliches, keine Wasserschläuche, kein Brot, nichts. Gewiss sind sie im Schlaf ermordet und aus den Wagen geworfen worden. Johann kehrt zum Leichnam des Bruders zurück, sieht Matthäus an und sagt: „Wie oft murrte ich, weil du darauf bestandest, dass ich meinen Gürtel und die Schuhe selbst nachts tragen sollte. Das war richtig, jetzt besitze ich Messer und Feuersteine und muss nicht barfuß laufen.“ Der Junge löst Matthäus` Gürtel und bindet ihn sich um. „Du hättest ihn mir gegeben, wenn du es könntest. Ich werde ihn immer tragen und dich nie vergessen. Da es Gottes Wille zu sein scheint, dass ich überlebte, soll ich wohl dich und die anderen Toten rächen. Das werde ich, verspreche es dir.“

Aus dem Dickicht schleppt der Junge mit zusammengebissenen Zähnen einige Äste herbei, deckt Matthäus damit zu und legt obenauf wieder ein Kreuz. „Mehr kann ich für dich nicht tun. Ich muss Menschen finden, die mir helfen.“ Johann kniet nieder, faltet die Hände: „Vater im Himmel, bitte nimm Matthäus und die anderen Toten auch ohne christliches Begräbnis zu dir. Ich werde nicht ruhen, bis ich die gemeinen Mörder gefunden und sie ihrer Strafe zugeführt habe. Ich danke dir für meine Rettung. Bitte beschütze mich auch fürderhin.“ Mit geschlossenen Augen verharrt der Junge für einige tiefe Atemzüge, ehe er sich erhebt. „Leb wohl, Matthäus. Wir sehen uns dereinst in jener anderen Welt, Bruder.“

Tränen verschleiern Johanns Augen, als er über die Lichtung zum Weg geht, auf dem sie herkamen. Ich kehre in das kleine Dorf Damme zurück, in dem wir am vergangenen Mittag eine Rast einlegten. Das ist am sichersten, beschließt er. Doch dann schaut er verwirrt auf die tiefen Spuren der schweren Wagen im schlammigen Waldweg. Sie führen alle in nur eine Richtung. Es bedarf eines Augenblicks, bis Johann begreift: Die Mörder sind zurückgefahren, dahin, wohin ich gehen will. Was nun? Unschlüssig steht er da. Wenn ich ihnen in die Arme laufe, töten sie mich. Entschlossen dreht der Junge sich um, läuft über die Lichtung zur Warnow hinunter. Am Ufer entdeckt er einen weiteren Toten mit einer Wunde in der Brust. Es ist ein alter Wende, der gern und oft pfiff. Ob sich einer der Knechte wehrte?

Schnell schreitet Johann aus, hält sich dicht am Ufer. Ich muss auf Stege, Boote, Netze und Pfade achten, auf alles, was auf Menschen hinweist. Nach geraumer Zeit werden seine Schritte langsamer. Inzwischen steht die Sonne hoch am Himmel, Hunger meldet sich und Durst. Tastend gleitet der Junge eine sanfte Böschung zum Fluss hinab. Das kühle Wasser labt ihn. Er schöpft mit der linken Hand das erfrischende Nass auch über Kopf und Arme. Das senkt zudem die Hitze in seiner Wunde und löst das Blut des Bruders von seinem Gesicht. Nur noch schwerfällig kommt Johann voran, Schmerzen und Müdigkeit zehren an seinen Kräften. Ich werde im Schatten der Bäume weitergehen, beschließt er, und ein paar Blätter kauen, damit sich mein Magen etwas füllt. Suchend mustert Johann seine Umgebung. Nichts deutet auf Menschen hin. Nachdem er erneut Wasser getrunken und sich abgekühlt hat, sinkt er ins Gras nieder, lehnt seinen Rücken gegen einen Baum. Hier ruhe ich mich aus, nur ganz kurz. Erschöpft schläft er ein.

Als er erwacht, steht die Sonne bereits im Westen. Johann schreckt auf und stürmt voran. Doch bald schon spürt er, wie entkräftet er ist. Erneut stillt er seinen Durst und kaut Sauerampfer. Bei Einbruch der Dämmerung stolpert er über eine Wurzel und schlägt sich das Knie auf. Ich muss Rast machen. Unter Schmerzen sucht er trockenes Moos, Zweige und Äste zusammen und entfacht ein kleines Feuer. Es spendet ihm ein wenig Trost. Einen handdicken Ast und seine Messer legt er griffbereit neben sich und betet zu Gott, dass er ihn beschützen möge.

Wolfsgeheul weckt Johann aus unruhigen Träumen. Die Bestien scheinen nicht so weit entfernt zu sein. Fanden sie die Leichname? Bloß nicht daran denken … Der Junge wirft Holz aufs Feuer und nickt wieder ein. Erst als es etwas heller wird, fällt er in einen tieferen Schlaf. Vogelsang und Sonnenstrahlen wecken Johann, die er schlaftrunken genießt, ehe ihm seine Lage wieder bewusstwird. Mühsam erhebt er sich. Der rechte Arm fühlt sich heiß an, die Wunde brennt. Heute muss ich Hilfe finden. Morgen früh werde ich nicht wieder aufwachen. Auf einen Stock gestützt tapst Johann los. Er ist noch nicht weit gekommen, da wird ihm schwindlig und schwarz vor Augen. Er rutscht das Flussufer hinab ins Wasser, trinkt, taucht die Beine unter, ruht sich aus. Mit der linken Hand greift Johann das kleine hölzerne Kreuz, ein Abschiedsgeschenk seiner Mutter, das an einer Lederschnur um seinen Hals hängt. Noch einmal betet er zu Gott um Beistand: „Ich kann nicht mehr weiter. Lass, bitte, ein Wunder geschehen, sonst sterbe ich hier.“

Erster Januar 1218

Am ersten Tag des neuen Jahres, Johann will sich seinen von Met und Bier noch leicht benebelten Kopf kühlen, fragt ein halbwüchsiger deutscher Knabe ihn, ob er Johann sei. „Wer will das wissen?“ „Ich habe eine Nachricht vom Hauptmann für ihn.“ Johanns Herz setzt für einen Schlag aus, um dann laut und heftig zu pochen. „Ich bin Johann. Was sollst du mir ausrichten?“ „Der Hauptmann sagte: ‘Ich beende, was schon vor Jahren enden sollte. Komm auf die Lichtung, sofort und allein!’“ „Wo ist der Hauptmann?“ Der Junge zuckt mit den Schultern. „Wo trafst du ihn?“ „Irgendwo.“ Der Junge dreht sich um und rennt davon. Johann überlegt nicht lange. Er holt Armbrust, Köcher und Schwert, wirft einen langen Umhang über und reitet los. Kurz hinter Kissin, wo der dicht an der Warnow entlangführende Weg nach Pölchowe beginnt, den Johann nie geritten ist, macht er eine kurze Rast und überlegt. Einen Kampf, wie in meinen Träumen, Mann gegen Mann auf der Lichtung, wird es nicht geben. Der Hauptmann ist heimtückisch. Er will nur eins, mich töten und er hatte genug Zeit, das vorzubereiten. Ich dagegen bin kopflos her geritten. Wenn ich ihn nicht wirklich verlieren will, muss ich nachdenken: Bereits auf diesem Weg kann der Hauptmann mir eine Falle gestellt haben, in einem Gebüsch lauern und ein wohlgezielter Pfeil beendet mein Leben. Ich muss vorsichtig sein.

Immer wieder Umschau haltend und angestrengt lauschend reitet Johann weiter. Schon bald ist der schmale Pfad erreicht, der auf die Lichtung führt. Er ist stark zugewachsen. Schnell reitet Johann an ihm vorbei. Der Hauptmann hätte ein gutes Schussfeld und ich keinerlei Deckung. Zum Glück mildert der Schnee die Geräusche, vielleicht hat er mich noch nicht gehört. Ein ganzes Stück weiter hält Johann sein Pferd an, steigt ab und bindet den Braunen an einen Baum abseits des Weges. Er greift nach seinen Waffen und entschließt sich, quer durch den Wald bis zum Ufer der Warnow zu gehen und von dort zurück zur Lichtung.

Obwohl Johann sich bemüht, leise zu sein und der Schnee zum Teil fast kniehoch liegt, knacken unter seinem Tritt kleine Zweige. Johann wird langsamer. Ich müsste gleich da sein. Er holt einen Pfeil aus dem Köcher, spannt seine Armbrust. Ein schrilles „Kraaah“ erschreckt ihn und Johann lässt sich fallen. Ein Pfeil bohrt sich in die linke Wade. Johann stöhnt auf und kriecht hinter einen Baum. Von wo kam der Schuss? Mehrere Weiden stehen am Waldrand, auf einer sitzt ein Rabe. „Varon“, flüstert Johann, „lauert der Hauptmann hinter diesem Baum?“ Könnte gut möglich sein, antwortet er sich selbst. Was ist mit meinem Bein? Die Wunde brennt. Ich muss den Pfeil abschneiden, damit er mich nicht behindert, aber nicht herausziehen, sonst blutet es stärker.

Immer wieder schaut Johann zu der Baumgruppe hinüber. Nichts tut sich dort. Der Hauptmann erwartete mich also hier und nicht am Weg. Hörte er, dass ich vorbeigeritten bin? Vermutlich. Was nun? Ich schleiche mich nach rechts tiefer in den Wald zurück. Johann erhebt sich, sogleich fliegt ein zweiter Pfeil heran und trifft den linken Oberarm. Nun los, er muss nachladen. Johann verbirgt sich hinter dem Stamm einer dicken Buche, beißt die Zähne zusammen, schneidet auch diesen Pfeil ab und grübelt. Ich mache das, was er erwartet. Plötzlich ruft der Hauptmann ihm zu: „Sei gegrüßt Johann, hätte gar nicht gedacht, dass du kommst. Weißt aber wohl, dass ich dich jederzeit auch in Rozstoc erschießen kann.“ Johann legt seinen weiten Umhang ab, dessen dunkle Farbe sich deutlich sichtbar vom Weiß des Schnees abhebt und der ihn in seinen Bewegungen behindert. Er antwortet: „Wenn du das könntest, hättest du es längst getan.“

Am Himmel sieht Johann den Raben aufsteigen und sich auf einem Baum ganz dicht bei dem Durchgang zwischen Lichtung und Warnow niedersetzen. „Zarek ließ dich also am Leben. Wenn ich mit dir fertig bin, ist dieser Verräter an der Reihe“, tönt der Hauptmann. Mist, ich sehe nichts, habe kein freies Schussfeld, stellt Johann fest. „Zarek war der Einzige, der sich dir widersetzte. Der Mutigste, mutiger als du.“ Ich muss noch weiter nach vorn zur Lichtung. Viel tiefer noch als vorher duckt sich Johann beim Schleichen. „Mut ist nicht wichtig, gerissen muss man sein. Du bist das nicht. Hättest sonst einen anderen Namen angenommen.“

Johann erreicht den Rand der Lichtung, liegt hinter einem dichten Brombeergestrüpp, das seine Hände zerkratzt. „So wie du, erst ‘Hauptmann’ und dann ‘Clawes Beeken’.“ Johann kann den Durchgang sehen und richtet seinen Pfeil aus. „Zwei falsche Namen. Aber meinen richtigen weiß dagegen niemand.“ Ich schon, denkt Johann triumphierend, sagt dann: „Nun, wo dein Bruder Onno tot ist, könnte das fast stimmen.“ „War jedenfalls gerissen mit dem Namen des Bauern und wäre nicht herausgekommen, wenn nicht dieser dreckige Wende es dem Borwin verraten hätte.“ Johann grinst: „Nein, nicht Zarek, du hast dich selbst verraten. Dein ‘Macht zu, Mannen!’ brachte mich auf deine Spur.“

Stille. Plötzlich fliegt ein Stein in Johanns Richtung. Er schaut hin und bemerkt zu spät, dass der Hauptmann hinter dem Baum hervorgesprungen ist und den Durchgang überquert. Johann schießt noch und ärgert sich fürchterlich. Schnell spannt er einen neuen Pfeil ein. „Ich wusste schon lange, dass da ein Johann beim Fürsten ist, aber den Namen gibt`s ja öfter. An dich dachte ich nicht, du warst ja tot und wirst es gleich auch sein. Aber dann reitest du von meinem Hof mit diesem Fürstenberater und dem Verräter. Die Gugel nutzte nichts, ich erkannte dein Gesicht. Bist ein Mann geworden, im Kopf aber noch ein Knabe.“

Er hat recht, ich stelle mich an, wie ein dummer Junge, falle auf seine Finten herein. Johann überlegt angestrengt. Wenn ich ihn besiegen will, muss ich denken wie er und dann etwas ganz Anderes tun. Nur was? „Hast dich wohl sehr gefreut, als der Mörder deines Bruders gehängt wurde?“ Johann lauscht, der Hauptmann kommt näher, mit dem Reden will er mich ablenken. Das kann ich auch. Johann kriecht um das Gebüsch herum, während er antwortet: „Und du hast zugesehen, wie dein Bruder geköpft wurde, hast seine Schreie nach dir gehört. Onno und die anderen könnten noch leben, wenn du sie nicht zu den Verbrechen angestiftet hättest. Hast sie alle auf dem Gewissen.“

Ich muss ihn in eine Falle locken, doch wie? Fieberhaft grübelt Johann, es fällt ihm etwas ein. Seinen linken Stiefel zieht er aus und platziert ihn so, dass ein Stück des Hackens hinter der Hecke hervorlugt. „Gewissen? Damit bringt man es im Leben zu nichts. Ich mache, was ich will, denn in den Himmel wäre ich nur als Säugling gekommen. Nach dem ersten Raub und Totschlag, ich muss so zwölf gewesen sein, war`s egal, was ich tat.“ Johann legt sich flach auf den Bauch und schiebt sich vorsichtig hinter der Hecke in Richtung Warnow. Als er das Ende des Gebüsches erreicht, dreht er sich um und lehnt den Rücken an einen Baumstamm. Er antwortet dem Hauptmann nicht mehr, um seine wahre Position nicht zu verraten. Kräftig drückt er die rechte Hand auf seine Brust, bis er das Holzkreuz seiner Mutter und die Feder Varons auf der Haut spürt. „Helft mir, den Mörder zu besiegen.“

Johann richtet seine Armbrust dorthin, wo sein Stiefel liegt. Der Rabe kreist über den Baumgipfeln, kommt immer näher. Johann hört Zweige knacken. Dann plötzlich steht der Hauptmann am anderen Ende des Gebüsches etwa zwanzig Schritte entfernt und Johanns Pfeil sirrt davon, bohrt sich mit Wucht in die linke Schulter. Der Getroffene zuckt zusammen, schwankt, kommt aber dennoch näher mit dem auf Johann gerichteten Pfeil. Die Gedanken des jungen Mannes überschlagen sich. Meine Falle ist auch eine für mich selbst.

Herbst 1217

Spät in der Nacht erwacht Mila von einem unterdrückten Schrei. Sie horcht, hört ungewöhnliche Geräusche und weckt Trin. „Lass uns nachsehen, was nebenan los ist.“ Mit ihrem Messer in der Hand betritt Mila Odas Kammer. Im Licht des Vollmondes erkennt sie, wie die junge Frau versucht, sich Wolfhards zu erwehren. „Hol Knut, schnell“, fordert Mila Trin auf und geht, ihre Angst überwindend, auf Wolfhard zu. „Lass Oda in Ruhe, sonst steche ich dich mit Messer“, ruft sie laut, mit zorniger Stimme. Wolfhard, stark betrunken, wendet sich langsam der Wendin zu. „Wieder du? Ich bringe dich um, du Miststück!“ Er erhebt sich torkelnd und will Mila greifen. Sie entweicht rückwärts durch die Tür. Mit einer Fackel in der Hand hastet Knut die Stiege empor, stellt sich schützend vor Mila und geht auf den jungen Bauern zu. Wolfhard blickt den Knecht hasserfüllt an. „Hältst zu diesem wendischen Luder? Ich schmeiße dich raus!“ Wutschnaufend verschwindet der Bauernsohn in seine Kammer. „Lass mich nicht allein“, bittet Oda und schaut zitternd zu Mila. „Ich bleibe bei dir. Wir stellen Hocker vor Tür. Der poltert, wenn Wolfhard kommt.“ Knut nickt. „Gut. Ich werde es hören und bin sofort da.“ An der Fackel entzündet Mila den Docht in einer Schale mit Talk und versperrt dann die Kammertür. „Hat er dir etwas angetan, Oda?“ „Nein, du kamst rechtzeitig. Wieso eigentlich?“ „Ich hörte deinen Schrei und wusste, was los ist.“ „Woher?“ „Wolfhard wollte das mir auch antun.“ „Oh mein Gott, warum hast du nichts gesagt?“ „Mir fehlen Wörter dafür.“ „Mila, wir müssen hier weg! Ich weiß aber nicht, ob mein Vater schon in Rozstoc ist“, schluchzt Oda. „Lass uns morgen überlegen, was wir machen“, schlägt Mila vor. Die Nacht bleibt ruhig, doch die Freundinnen schlafen schlecht.

Beim Morgenmahl fragt die Bäuerin: „Was war das für ein Lärm in der Nacht?“ „Es war etwas zu viel Bier“, beeilt sich Wolfhard zu antworten, ehe jemand anderes etwas sagen kann, „und ich irrte mich in der Kammer. Die da“, seine Hand weist auf Mila, „wollte mich schon wieder mit ihrem Messer abstechen. Es war ein Fehler, sie hier zu behalten. Sie ist verdorben. Und Knut mischte sich auch noch ein. Daher der Krach.“ Die Bäuerin blickt Mila unzufrieden an. „Ich werde mit dem Bauern reden.“ „Du solltest den Alten schonen und die beiden gleich rausschmeißen.“ „Nicht so schnell, mein Junge! Geht jetzt alle an eure Arbeit!“ Die Bäuerin befragt Mila nach dem Hergang und spricht auch mit Oda. „Wolfhard war einfach nur betrunken. Ihr müsst ihm verzeihen. Ich werde ihm den Kopf zurechtrücken“, verteidigt die Bäuerin ihren Sohn.

Als Mila zu den Hühnern geht, um Eier zu holen, winkt Knut sie zu sich. „Nicht immer werde ich dir oder der jungen Bäuerin helfen können. Wolfhard ist, wie sein Name es sagt, ein harter Wolf. Ich kenne keinen anderen so bösen Mann. Jede Gemeinheit traue ich ihm zu. Das gestern Nacht, das war kein Versehen. Der Jungbauer wollte die Frau seines Bruders von Anfang an für sich. Verlasst diesen Hof so schnell, wie möglich!“ „Wir wollen gehen. Oda weiß aber nicht, ob ihr Vater wieder in Rozstoc ist. Am besten, ich laufe hin.“ „Auf keinen Fall! Wolfhard wäre gewarnt. Wer weiß, was er unternimmt, wenn er seine Absichten durchkreuzt sieht. Deine Leute verlassen uns heute, sprich mit ihnen.“ „Das werde ich tun.“ Wenig später kann Mila mit Radek und Gosia unbeobachtet auf dem Hof reden. „Ich brauche eure Hilfe. Sicher bemerktet ihr, was am Abend vorgefallen ist. Oda und ich sind hier vor Wolfhard nicht sicher. Wir wollen nach Rozstoc zu Odas Vater. Er heißt Gottfried von Cosfeld. Sein Haus steht am Markt. Kannst du, Radek, oder jemand aus Rybowe ihn aufsuchen?“ „Ja, das kann ich.“ „Dem Kaufmann muss gesagt werden, dass Odas Mann tot ist, sie ihr ungeborenes Kind verlor und ihr Schwager ihr Gewalt antun will. Der Vater soll Oda sogleich aus Niehoff holen.“ „Das werde ich ausrichten“, verspricht Radek. „Es kann aber sein, dass der Kaufherr noch nicht in Rozstoc weilt.“ Mila klingt verzweifelt. „Wir sprechen mit unserem Starost. Er weiß sicherlich Rat, falls der Kaufherr noch nicht zu Hause sein sollte. Einverstanden?“, schlägt der Rybower vor. „Ja, das ist gut.“ „Soll ich deiner Mutter etwas bestellen?“, fragt Gosia. „Bitte, sage ihr, dass ich mit nach Rozstoc gehe. Ihr helft uns sehr!“

Leseprobe „Schorler“

Vicke lag wach, wartete darauf, dass Ruhe ins Haus einzog.
Irgendwann vernahm er die Schritte des Vaters, der zu später Stunde aus dem Kontor kam, wo er für gewöhnlich bis spät in die Nacht über Rechnungen und Verträgen saß. Den langen Tag über hatte Vicke Zweifel gehegt, ob er seine Ankündigung vom Morgen einlösen sollte. Der Mut schien ihn zu verlassen. Plötzlich gab er sich einen Ruck, stand leise von seinem Lager auf, schlich zur Tür und verschwand aus dem Zimmer.
Durch das schmale Fenster fiel das matte Licht des abnehmenden Mondes in die Kammer der Magd.
„Du bist schön “, flüsterte Vicke Greet ins Ohr und streichelte zärtlich ihre Wange.
„Solche Worte, junger Herr, hat bisher niemand zu mir gesagt, auch nicht Luten.“
„Luten?“, fragte Vicke argwöhnisch.
„Luten ist wie ein Vater zu mir.“
Der junge Mann begriff, für seine Eifersucht gab es keinen Grund. Zärtlich schmiegte die Magd sich an ihn und sie genossen still ihr Glück. Mit unbeholfener Hand streichelte Vicke Greets Brüste. In seine Hochstimmung platzte das Mädchen mit der Bemerkung:
„Mir will scheinen, junger Herr, was wir hier tun ist unrecht.“
Vicke schwieg. Jedes Glück, auch Liebesglück ist vergänglich. Diesen Satz kannte er aus dem Werk eines römischen Autors, dessen Name ihm nicht einfiel. Er wollte sein Glück auskosten, festhalten, jeden dunklen Gedanken und jede böse Ahnung verscheuchen.
„Unrecht Ding währet nicht lang ... Ihr seid ein Herr und ich bin eine Magd. Die Rechnung geht nicht auf.“
„Ein Siebzehnjähriger ist bei weitem kein Herr.“
„Scherzt nicht, denn ihr wisst haargenau, wie ich es meine.“
„Nein. Der junge Herr versteht sie nicht, Jungfer Greet“, ulkte Vicke.
„Meine Base sagt immer: Reich zu reich und arm zu arm. Das ist seit ewigen Zeiten so. Etwas anderes bringt Ungemach.“
„Sorg dich nicht Greet, es wird sich alles fügen.“
„Glaubt ihr, dass Gott, der Herr, mit uns ein Einsehen hat?“
„Der Allmächtige wird ein Einsehen haben, wenn zwei junge Herzen für einander schlagen.“
Überzeugend klang die Erwiderung des Jünglings in Greets Ohren nicht, auch nicht, als er hinzufügte:
„Bei meiner Seel, er wird es.“
Mit beiden Armen klammerte Greet sich an Vicke, so als wolle sie ihn nie wieder loslassen.
„Niemand darf mir meinen Liebsten nehmen. Den Tag würde ich nicht überleben“, flüsterte sie beunruhigt…

Andrees Schorler holte tief Luft, richtete sich zu voller Größe auf, verließ das Stehpult und durchquerte das Kontor, als wolle er die Schritte zählen, die der Raum von der Tür zu den Blei verglasten Fenstern maß, blieb vor Vicke stehen und befahl entschlossen:
„Ohne Wenn und Aber! Das verruchte Weibstück verlässt am morgigen Tag mein Haus. Punktum.“
„Vater, das dürft ihr nicht. Die Greet gehört zu mir.“
„Geschwätz! Wenn die Zeit gekommen, heiratest du eine vermögende Wittfrau. Die bringt dir Häuser, vielleicht das Braurecht und etliche Hopfengärten als Mitgift in die Ehe. Geld zu Geld, heißt es. Oder willst du als ein Habenichts durchs Leben gehen? Wenn ja, dann nimm die Metze bei der Hand und verschwinde mit ihr!“ …

Linde blickte den Sohn bekümmert an und berichtete ihm, dass die Magd schwanger sei und ihre schwere Erkrankung gewiss mit diesem Umstand zusammenhinge. Unfähig, seine Gedanken zu ordnen, empfand Vicke nur, dass er die Ursache für das Leid des Mädchens war.
„Ich versprach, sie nicht wieder zusehen und habe mich darangehalten. Aber soll ich mir ein Leben lang vorwerfen, schuld am Tode Greets zu sein und ihr zudem ihren letzten Wunsch nicht erfüllt zu haben? Lasst mich zu ihr gehen, Mutter“, bat der Sohn unter Tränen.
Nach längerem Bedenken meinte Linde, dass niemandem das Recht zustünde, einer Sterbenden die letzte Bitte zu versagen. Sie fühlte, wie Vicke litt, tat einen Schritt auf ihn zu und sagte:
„Geh, mein Sohn, geh am Abend zu ihr und tu, was eines Christenmenschen Pflicht ist.“
Vickes Gesicht hellte sich auf.
„Aber zu niemandem ein Wort! Kein Sterbenswort!“…

Er tat ein paar Schritte, hörte den Schrei einer Eule und blieb wie angewurzelt stehen. Ein böses Omen. Ihn schauderte. Von Stiencken wusste er, ein Eulenruf zu später Stunde kündigte an, dass in derselben Nacht ein Kranker sterben werde. Greet? Gevatter Tod wird sie holen. Sie ist verloren. Unrettbar verloren. Ich habe sie gedrängt, sich mir hinzugeben. Wie soll ich mit dieser Schuld weiterleben? Vicke lenkte seine Schritte auf Sankt Johannis zu. Trotz der späten Stunde fand er das Portal geöffnet. Bedächtig durchschritt er den Mittelgang, trat in eine Bank und kniete nieder. Die Stille im Gotteshaus tat ihm gut. Er faltete die Hände und begann ein Vaterunser zu beten, wobei ihm Tränen die Wangen hinunterliefen. Mitten im Gebet schoss ihm ein Gedanke durch den Kopf: Ich, Vicke Schorler, zweit geborener Sohn des Kaufmanns Andrees Schorler gelobe …, sein Blick fiel auf den geöffneten Altar mit der Darstellung der „Heimfahrt der heiligen drei Könige“ und die darauf abgebildeten Kirchen und Klöster Rostocks, ... alle ... Tore, … Brücken, … Kirchen, ... Häuser und … und die Stadtmauer meiner über alles geliebten Stadt zu konterfeien…